Sonntag, 13. September 2009

Größenwahn

Aga, Ines und Filip sind ans Meer gefahren, Jastrzebia Góra, weit hinaus also. Ich bin zu Hause geblieben und schmiede irrwitzige Pläne, beschreibe wie in einem Rausch Seite um Seite meines Notizbuches, springe auf, gehe auf und ab, verwerfe, was ich gerade eben noch notiert hatte. Ab und zu erreichen mich Nachrichten von Aga und Ines, fragen, wie es mir geht, ich vermute, sie kontrollieren, ob mir noch nicht der Kopf geplatzt ist oder zumindest noch an der richtigen Stelle sitzt.

Mittlerweile habe ich meine Protagonistin klar vor Augen, ihren Namen, ihr Aussehen, ihre Geschichte. Ich arbeite nun an der Konzeption der unmittelbaren Vorvergangenheit - was ist passiert, wie konnte es zu dem kommen, was passiert ist? Die Familiengeschichte, ihr polnisch-deutscher Hintergrund, ist auch bereits entworfen. Bei einer Wohnungsfrage ("Ja, aber kann es denn rein theoretisch diese Wohnung überhaupt geben?!" half mir übrigens ein sehr gelehrter Danzig-Kenner, ich bin sehr dankbar für all die Leute, die ich hier treffe, und die mir in so vielem helfen.

In einem Moment die absolute Begeisterung, im nächsten Zweifel, die einen packen und zuflüstern, dass das, was man vorhat, größenwahnsinnig sei und wirr. Ich möchte aber weder diese Zweifel, noch Größenwahn oder Wirrnis scheuen müssen. Ich glaube, sie sind Wegabschnitte zum Ziel, und das Ziel ist ambitioniert, das muss es sein. Mein Plan, wie er jetzt ist, hat wenig zu tun mit dem, was ich mir am Anfang vorgestellt habe. Auch das ist normal.

Eventuell fahre ich gleich noch hinaus ans Meer, an die Westerplatte vielleicht. Es wird Zeit, dass sich unser Verhältnis normalisiert, seit dem Chaos von Anfang des Monats. Ich möchte gern dort einmal die Stille erleben, die Friedfertigkeit. Außerdem kann ich dann Ines und Aga schreiben, dass ich mich durchaus aus meinem Kämmerlein am Wochenende hinaus bewegt habe!


Freitag, 11. September 2009

Sous le ciel de Pologne

Gerade bin ich mit der wiederholten Lektüre Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" fertig geworden. Ich verstecke gar nicht, dass ich daraus klaue wie ein Rabe: Rilke ist Großmeister der fein ziselierten Sprache und starken Bilder, damit kriegt er mich immer wieder. Meine Danziger Stadterzählung - dieser Band wird schon nächstes Jahr erscheinen, ganz konkret also - wird, ähnlich wie der "Malte", ebenfalls aus Fragmenten und Aneignungen bestehen, Fiktionalisierungen, die erst in ihrer Masse ein Bild des Erzählers ergeben. Hauptrolle spielt natürlich Danzig, immer wieder Danzig, mit seinen Geschichten und Momenten.

Und dann Paris: Wie merkwürdig, dass trotz der unheilvollen Beschreibungen Paris' und seiner Gestalten, ich mich plötzlich heftig nach der Metropole an der Seine sehne...Meine Sehnsucht geht so weit, dass ich meine Fenster weit geöffnet habe und in den Regen Edith Piaf und Serge Gaisnbourg hinaus singen lasse. Sous le ciel de Paris s'envole une chanson... was gäbe ich nicht für ein Croissant á l'almendre irgendwo im Quartier Latin!

Also ein Tag der törichten Sehnsucht und einer unbestimmbaren Rilke-Melancholie. Ich verbiete mir das ganz und gar nicht. Jeder Gedanke und jene Sehnsucht wird schließlich zurück strahlen auf den Ort, an dem ich mich tatsächlich befinde, und mir neue Aufschlüsse über ihn liefern. Auch Aufschlüsse über mich selbst und was ich vermisse, wenn ich fort bin. Ich weiß nun übrigens, dass ich für den Roman mich mehr mit Wrzeszcz und Nowy Port auseinander setzen muss.
Benjamin Biolay singt gerade: Novembre toute l'année. Es regnet noch immer, Kälte dringt ein in mein Zimmer, aber der Kaffee wärmt meine Hand.


Mittwoch, 9. September 2009

Die Identität des Weiser Dawidek

Gestern Abend war ich bei einem Autorengespräch mit Pawel Huelle. Hatte ich Massen von Besuchern und einen völlig überfüllten Zuschauerraum erwartet, wie ich es von Krakauer Autorengesprächen kennen, hatte ich mich geirrt. Es fand statt im sehr überschaubaren und intimen Rahmen der Filia Gdanska, der Städtischen Bibliothek in der ulica Mariacka.

Übrigens auch ein besichtigungswürdiger Ort, ebenfalls ohne Pawel Huelle: Ein schneckenhausartiges Inneres, Eichenholzmöbel, Messinglampen, eine Wendeltreppe und umlaufende Galerie. Wunderbar bis ins kleinste Detail, es ist so spürbar, wenn jemand Liebe in einen Ort, einen Raum investiert, in diesem Fall war es wohl der Bibliotheksleiter Zbyszek Walczak.

Und dann Pawel Huelle, der ein bißchen erzählte von seinem Danziger Selbstverständnis, Anekdoten, Episoden aus seiner Kindheit, gut berichtet, gut aneinander gefügt. So hätten sie auch in seinem großartigen Buch "Weiser Dawidek" stehen können. Einige Bücher hat er währenddessen auch kommentiert, augenzwinkernd auch das Buch seines Kollegen Stefan Chwin, "Hanemann" (zu deutsch Tod in Danzig).
Viele Anekdoten, die sich um seinen Skeptizismus ranken, was alles Deutsche angeht - jedesmal ein humoristischer Moment, wenn er dabei etwas schuldbewusst den deutschen Konsul anblickte, der neben mir saß und amüsiert aussah, jederzeit.

Seiner Meinung nach übrigens ist das beste Buch von Günter Grass "Katz und Maus", das schmächtigste der Danziger Trilogie. Eine Empfehlung, der ich mich dringend anschließen möchte: Das Werk des großen Fernando Pessoa, des portugiesischen Schreiber-Genies. Huelle empfahl "Ricardo Reis", ich sage: "Das Buch der Unruhe".

Montag, 7. September 2009

Über alles

Ich arbeite gerade sehr intensiv an der Zweitveröffentlichung, die es neben dem Roman über Danzig geben soll (die auch wesentlich früher erscheinen wird), ihr Titel soll sein: "Danzig. Eine Stadterzählung." All meine Notate, die ich Tag für Tag in meinem Skizzenbuch versammelt habe, werden nach und nach in kleine, literarische Fragmente verwandelt - es ging gut voran, gestern, und als mir irgendwann nachmittags der Kopf rauchte vor lauter "Fragmentierungen", bin ich hinunter an den Targ Weglowy gegangen, um mich ein bißchen abzulenken.

Ein Plan, der zumindest auf den ersten Blick voll funktioniert hat...im Rahmen des Festivals der europäischen Kulturhauptstädte gab es dort gestern ein kleines "Wilna-Fest". Faszinierend zu sehen, wie sehr die Polen von der litauischen Kultur angezogen werden. Die Stände mit den Woll-, Leinen-, Wurst- und Käse-Produkten konnten sich des Ansturms kaum erwehren.
Es gab auch eine kleine Bühne, auf dem eine Gruppe der polnischen Minderheit in Litauen ihre Tänze und Lieder vorführte, sehr interessant ihr Dialekt, sehr spürbar der russische Einschlag.

Auf die Schnelle also ein paar ethnologische und soziologische Studien betrieben, und dann: Sich von der allgemeinen Euphorie anstecken lassen und ein Stück litauischen Käse mit Knoblauch gekauft haben ("otschen wkusnyj!"). Zuhause habe ich noch ein wenig herumfragmentiert, abends bin ich ich Ines, Aga und Filip auf ein polnisch-litauisches Akkordeonkonzert in der Sw. Jakub-Kirche gegangen. Nach einer Stunde haben wir uns hinausgestohlen, anstelle von flotter Folkoremusik hat uns eine Bachinterpretation erwartet.

Heute werde ich einen langsameren Gang einlegen müssen. Der Käse aus Litauen war mir des nachts alles andere als wohlgesonnen, vielleicht als Strafe dafür, dass wir nicht bis zum Ende das Konzert angehört haben...

Donnerstag, 3. September 2009

Leibhaftig

Wie blind man für einen Text werden kann! Heute habe ich einen Teil jenes Textes wiedergelesen und ein weiteres Mal korrigiert, der mich bereits seit über einem Jahr begleitet - mein erster Roman. Auch er mit einem polnischen Thema: Schlesien, zwei Zeitebenen, zwei miteinander verflochtene Reisen. Eine doppelte Vertreibungsgeschichte, der Teufel, der leibhaftig umgeht, und einer Protagonistin in der Jetzt-Zeit, die sich nach dem Tod ihres polnischen Großvaters von Schlesien nach Galizien durchschlägt, der Keimzelle ihrer Familie.

Ich kenne jedes Wort, kann im Kopf jeden Satz beenden, den ich anfange, zu lesen. Es ist kein Text mehr, die Sätze zerfasern in Worte und die Worte in Silben. Ich höre ihn mehr, fühle ihn - ganz stofflich - als dass ich seinen Sinn begreife. Das ist der Punkt, an dem der Schriftsteller den Text aus der Hand geben sollte. Ein ganz eigenartiges Gefühl. Als würde man ein Kind vor der Zeit in die Welt hinaus schicken.

Gleich morgen früh werde ich ihm ein paar Brote schmieren, einen Apfel und ein Stück Schokolade mit auf den Weg geben, ihm noch einmal übers Haar streichen, bevor ich langsam die Tür hinter ihm schließe. Jeder Abschied tut weh. Wie gut, dass es da etwas neues gibt, dass langsam in mir gedeiht und immer mehr Gestalt annimmt.

Am Morgen

Heute gab es Nebel. Ich mag Nebel.

Mittwoch, 2. September 2009

Westerplatte

Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben auf der Westerplatte verbracht zu haben - dabei können es gestern höchstens neun Stunden gewesen sein. Ein Leben, gefüllt mit der sich ein letztes Mal aufbäumenden und dabei alles versengenden Sommersonne, fragilen, weißen Plastiksonnenschirmen, Filmleinwänden, von denen Maschinengewehrsalven hinunterdonnern, Kontrollhelikoptern, Durst, Reden, Fernsehen, sehr viel Fernsehen.

Angefangen hatte alles mit einem kleinen Dreh der ARD in der Innenstadt, dann auf einem Kriegsschiff für das polnische Fernsehen, TVP. Dort hatte ich das Vergnügen, Stefan Chwin und seine Frau zu treffen - auf meine Frage hin, wie der Urlaub gewesen sei, hatte er die Augen aufgerissen und gesagt: Ach, wir waren ja bloß in den Kaschuben - wissen Sie denn, was das ist, die Kaschuben?
Natürlich war ich viel zu verdattert, um situationsgemäß zu reagieren - ich habe brav gelächelt, Jawohl, Herr Chwin, ich weiß, was die Kaschuben sind - und später hat der Kameramann Michal von der ARD kommentiert, ich hätte ihm erzählen sollen, dass ich in Berlin wohne: Ob er wisse, was das sei?
Jaja, Schlagfertigkeit ist das, was einem auf dem Nachhauseweg einfällt. Frau Chwin übrigens ganz in weiß mit Hut, queen-like, kirschrote Lippen.

Dann die Niederlegung der blauen Windlichter und die Reden. Kaczynski hat den Eindruck eines etwas gelangweilten Geschichtslehrers auf mich gemacht, Tusk war nicht viel besser, erst Merkel hat mich mit ihrer Emotionalität wieder aufgeweckt, auch Putins Rede fand ich beinahe versöhnlich und somit sehr überraschend.

Ich glaube ja, es ist sehr anstrengend, für das Fernsehen zu arbeiten, vor allem, wenn es für einen gewichtigen Sender wie die ARD ist. Vor allem aber dann, wenn man vor hat, die Stadtschreiberin während der Festivitäten zu drehen, und selbige am Eingang der Westerplatte merken muss, dass irgendjemand im Stadtbüro vergessen hat, die vollständige Einladung zu schicken, man deshalb mit ihr zwei Stunden in praller Sonne vor dem Eingang warten muss, bis der Plastikanhänger, den man sich um den Hals hängt, per Auto nachgeschickt wird, und man erst dann, verspätet, mit der Arbeit beginnen kann.
Nein, ich beneide die Fernsehredakteure nicht. Ich als Stadtschreiberin kann wenigstens alle Phänomene nehmen, wie sie kommen.
Wenn es Chaos ist, nehme ich Chaos, sage, schreibe: Chaos.

www.kulturforum.info:
Danziger Stadtschreiberin in den ARD tagesthemen und im ZDF heute journal